Wiborada schaut durch ein Fenster auf die Welt
und durch das zweite Fenster auf eine Kirche.
19. Oktober, 10.00: Première in Sankt Gallen. Zum ersten Mal, es ist unglaublich, stehe ich vor Wiborada und der St. Mangen-Kirche auf der Magnihalde. Der Platz wirkt wunderschön im Herbst. Und dies in unmittelbarer Nähe unseres Hotels. Warum zum Gugger war ich noch niemals hier? Bis vor kurzem kannte ich Wiborada nicht. Dabei … Sie gilt als Patronin der Bibliotheken und Bücherfreund:innen. Eines ihrer Attribute: ein Buch. Wiborada ist ein althochdeutscher Name und bedeutet „weibliche Ratgeberin“. Im Jahr 926, lang ist es her, gab sie beim Ungarn-Einfall den Sankt Galler Mönchen den klugen Tipp, die Bibliothek des Klosters auf die Insel Reichenau im Bodensee auszulagern, ebenfalls ein berühmtes Kloster der Bodensee-Region. So rettete sie das älteste Buch in deutscher Sprache von 720 sowie das um 920 in St. Gallen zusammen gestellte, älteste Liederbuch der Welt. Überhaupt wird Wiborada als geschätzte Ratgeberin und Mahnerin verehrt. Sie lebte 10 Jahre lang als Inklusin in einer Zelle eingeschlossen. Durch ein Fenster konnte sie in die Welt, in die Stadt, hinaus schauen, durch ein zweites Fenster zur Kirche. Ihre Zelle bei der heute reformierten Kirche St. Mangen an der Kirchgasse – es ist die älteste Kirche der Stadt – suchten viele Menschen auf, darin lebte sie seit Pfingsten 916. Weitere Frauen eiferten ihr nach und bildeten unter ihrer Leitung eine Inklusinnen-Gemeinschaft. Beim Einfall der Ungarn kam sie 926 als Märtyrerin ums Leben. 1047 wurde sie als erste historisch belegte Frau von Papst Clemens II. in die Schar der Heiligen aufgenommen. Vor der Kirche stehen wir auf dem Wiborada-Platz und schauen auf ihre Statue, die 1926 geschaffen wurde. Rosmarie fotografiert sie. Die Wiborada-Treppe führt zur nächsten Gasse hinunter. Um 960/970 verfasste Klosterdekan Ekkehart I. die erste „Vita sanctae Wiboradae“, die erste „Biografie“. Um 1075 entstand eine zweite Vita, legendär-rhetorisch erweitert von Mönch Herimannus. Wir stehen beeindruckt neben der Frau. Sie soll am Bodensee in eine vornehme Thurgauer Familie hinein geboren sein, wann und wo genau ist nicht bekannt. 912 zügelte sie nach Sankt Gallen. Im Stiftsarchiv hätte es mehr „Material“ zur Stadtheiligen. Während ich dieses Blog schreibe, besucht Rosmarie die feministische „Wyborada Frauenbibliothek“, 1986 gegründet und nun zum Literaturhaus erweitert. Leider ist es wegen Ferien geschlossen, Pech! Dort wollte sie mehr erfahren vom Projekt „Wiborada 2021“. Ende April bis Ende Juni liessen sich zehn Frauen für je eine Woche in einer speziellen Zelle mit 2 Fenstern einschliessen, eines ging auf die Kirche hinaus, das andere auf die Welt. Unter anderem schrieben sie Tagebuch, das nach Abschluss des Projektes in die Sammlung der Stiftsbibliothek kam. Das Thema der Aktion lautete: „Ein Schatz im Acker“. Warum ist dieser Schatz so wenig bekannt? Warum spricht Sankt Gallen nur von Gallus? Irgendwie fehlt hier eine Ortstafel, auf der in grossen Buchstaben SANCTA WIBORADA stehen sollte.
Selbstverständlich gehen wir auch zu Gallus. Am Wasserfall des Baches Steinach, am Fuss der Mühlenenschlucht gleich neben dem Klosterbezirk, schaut er von oben auf uns herab, neben sich die Jahreszahl 612. Ich stehe auf einem Kunstwerk des uns persönlich bekannten Sankt Galler Künstlers Hans Thomann – Grüsse gehen raus! – das wie ein Sprungbrett über der Steinach schwebt. Ein historischer Ort? Ein legendärer Ort! Hier beginnt morgen der Gallus-Weg, der uns via Steinachtobel hinunter nach Arbon zur Gallus-Kapelle führen soll.
Von historischem Gewicht ist der Dom nebenan, ein barockes Juwel, Weltkulturerbe der UNESCO. Für einen kurzen Augenblick sind wir nur zu dritt in diesem wunderschönen Raum und atmen tief durch. In der Stiftsbibliothek begegnen wir neben unzähligen Büchern aus alter Zeit dem Wissenschaftler, Lehrer und Mönch Notker dem Deutschen. Er starb 1020 an einer vom Heer Heinrichs II. eingeschleppten Krankheit. Ihm ist zur Zeit eine Ausstellung gewidmet unter dem Titel „Zeitenwende“. Notker hat zweisprachige Texte und Bücher verfasst: auf Lateinisch und auf Althochdeutsch. Darum erhielt er den Beinamen „der Deutsche“. Zur damaligen kulturellen Zeitenwende trug er bei, weil er religiöse und philosophische Texte, u.a. von Aristoteles, ins Deutsche übertrug. Damit hob er die damalige Volkssprache der Einheimischen auf Augenhöhe zur Gelehrtensprache Latein. Im Gewölbekeller schauen wir noch bei der Ausstellung zur „Geschichte“ von Gallus und dem Beginn des Klosters Sankt Gallen vorbei. Ich setze „Geschichte“ bewusst in Anführungszeichen, weil „Legenden“ der treffendere Begriff wäre, der immerhin in Untertiteln verwendet wird. So what. Als wir den Klosterhof verlassen, grüsse ich Otmar, den Klostergründer, der als Statue neben dem Eingang zu Büro und Wohnung von Bischof Markus steht. In Freiburg waren wir Studienkollegen – Grüsse gehen raus!
PS. Nach der Bodensee-Umwanderung werde ich längere Essays schreiben zur Stadt Sankt Gallen, zum Thurgau und zu Arbon. Für die letzten Wandertage meines Bodensee-Projektes gilt noch das Motto: „Die Füsse sind für mein Schreiben so wichtig wie der Laptop.“