Des Glückes Tod ist der Vergleich
(Sören Kirkegaard)
Es handelt sich um eine Gegend an Rändern.
Sie schaut nach Konstanz, München, Stuttgart, Bregenz, Wien.
Die Märchenfigur Rumpelstilzchen ist dort nicht unbekannt.
Wer alles dazugehört, kommt auf den Standort an.
Eine richtig grosse Stadt gibt es darin nicht.
Wie die Leute reden, gefällt nur wenigen.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm direkt in die Mosterei
Was andere von ihr denken, ist ihr (Brat-)Wurst ohne Senf.
Sie ist ein Bijou, unvergleichlich schön.
Des Rätsels Lösung heisst … Bravo, Du hast es gelöst! Es war eine heikle Aufgabe, ich gebe es zu. Denn „die Ostschweiz existiert nicht“. So eindeutig titelte die NZZ am 14. November 2022. 2022! Und der Autor des ganzseitigen Textes – sooo viel über nichts! – stammt aus dem Kanton Sankt Gallen. Ist er ein Masochist? Oder hat er ein grösseres Ganzes im Blick? Ich tippe auf letzteres.
Der Schreiber dieses kleinen Textes stammt aus dem Kanton Thurgau, genauer: aus dem Oberthurgau. Er lebt jedoch schon lange im Kanton Bern. Ist er ein heimlicher Heimweh-Ostschweizer? Nein, er bekennt sich öffentlich und selbstbewusst zu seiner Herkunft. In diesem Jahr hat er jene rätselhafte Gegend grossflächig zu Fuss in über 30 Etappen erkundet. Eine Erkenntnis dabei: wir sollen statt von der schwierig zu fassenden Ostschweiz modern und zugleich historisch gesehen von den Bodensee-Anwohner:innen, von der Region Bodensee schreiben. Diese Gegend umfasst ja grenzüberfliessend einen grossen See. Also grossräumig, grosszügig denken.
Das Jahr 2022 geht zwar bald zu Ende, aber mit jener Gegend bin ich noch nicht fertig. Obwohl oder gerade weil sie jenseits von Winterthur nicht zu existieren scheint. Die NZZ erwähnt ein Beispiel. Schweiz Tourismus veröffentlichte im Mai 2022 (!) eine Karte mit den wichtigsten (!) Museen der Schweiz. Die Museums-Karte hörte hinter Winterthur einfach auf. Zwischen Bodensee und Walensee soll es keine Museen geben? Die Region war nicht mal ne Fussnote wert (der sparsame Ex-Bodenseeanwohner spart darum einige Buchstaben).
Ein neues Wort ist für meine Schreibe dringend gesucht: Bodenseer:in / Bodenseher:in? Vergleichbar mit Bernerin, Basler, Genferin, Engadiner, Emmentalerin, Rheintaler. Sonst verzichte ich auf Vergleiche, siehe Kirkegaard.
Wenn es um den Umgang mit der Gegend im Osten der Schweiz geht, herrsche Ratlosigkeit, schreibt die NZZ. Die Region sei weder politisch noch geografisch richtig fassbar. Je nach Gremium bestehe sie aus drei, vier, fünf oder acht Kantonen, manchmal mit, manchmal ohne Fürstentum Liechtenstein. (Übrigens: die Aussicht vom Fünfländerblick oberhalb von Rorschach erfasst Baden, Württemberg, Bayern, Vorarlberg, Schweiz – für mich sind alles Bodenseer:innen!) Mit „Kernostschweiz“ werde, noch diffuser, der Raum zwischen dem Bodensee und dem Toggenburg gemeint, schreibt die NZZ. Diese föderalistische Identitätsstörung habe vor über 200 Jahren begonnen. So sei der Kanton Sankt Gallen aus Restposten der gescheiterten Helvetischen Republik zusammengeklebt worden. Eine Fehlkonstruktion, eine Zwangsgemeinschaft. Bis heute dürfe keine Region des Kantons zu stark werden. Im Thurgau gibt es keine Zentrumsstadt, jede (kleine) Teilregion orientiert sich nach „draussen“, nach Konstanz, Sankt Gallen, Wil, Winterthur/Zürich oder Schaffhausen. Und ich erinnere mich an das Jahr 2016. Damals wurde durch Volksabstimmungen in den Kantonen Sankt Gallen und Thurgau bereits der Projektierungskredit für eine nationale Expo 2027 im Raum Bodensee-Ostschweiz abgelehnt. Sogar die Internationale Bodenseekonferenz, 1972 gegründet, sei ein diffuses Konstrukt ohne politische Durchschlagskraft.
„Die Ostschweiz existiert nicht, sie ist ein Trugbild aus Scheinzusammenhängen.“ Auf den NZZ-Artikel mit diesem Fazit sind – Stand heute – online 47 Kommentare aus der Leser:innenschaft vermerkt. Ich lese sie in der Kombination von Genuss / Herzschmerz. Und beisse gleich in einen Apfel. Auf MBB’s Bodensee-Trail habe ich neben Äpfeln aus Mostindien auch solche von der Insel Reichenau schätzen gelernt, sehr fein. Und ich freue mich auf die nächste Flasche Möhl-Saft alkoholfrei, produziert im mostindischen Arbon. Prost auf die Bodenseer:innen!
PS: Wie wäre es, auf dem Bodensee eine schwimmende Expo auszurichten, die von den Anrainern in den nächsten Jahren geplant und ausgeführt würde? Einige Ideen liegen vor, weitere sind willkommen.
Es gab schon früher Bodenseer, z.B. Johann Heinrich Mayr aus Arbon. Er schreibt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgende Worte:
«Es erwachte bey mir zu jener Zeit – und in jenen Stunden – der Sinn für Natur u: deren Schönheit – verbunden mit Rükerinnerungen an die reizende Gegend meiner Heimath. – So wie ich einsam war mahlte sich meine Phantasie mit Zauberfarben den schönen Spiegel des BodenSees mit seinem gesegneten Ufer, die ruhigen Gefielde meiner Wohnung, die Umkreisung eines Waldes von Fruchtbäumen um einen Theil derselben; – das liebliche Thal umkränzt von nahe liegenden mit Dörfern u: Landhäusern übersäeten angenehmen Hügeln, – der weiterhin sich erhebende u. über diese emporsteigende – ganz angebaute fruchtbare Rorschacher Berg; – mehr mittäglich – der interessante GesichtsPunkt von Vögelisegg – nebst denen das gewerbsame St. Gallen umkreisenden Gebirgen, – deren amphitheatralische Erhebung unferne von meiner Wohnung an beginnt, u: als Krone begränzt das Gemählde in weiter Ferne die ausgezeichnete Prachtform des in der AbendSonne kupfernden Alpsteins, (Sentis) – mit der Abwechslung seiner zu Gletscher gewordenen SchneeSchachten. Gegen Morgen schließt das Perspectiv die Kette der Vorarlberger und Tyroler Alpen. Immer, – auch selbst nachdem ich die berühmtesten Gegenden Europas, und merkwürdige anderer Welttheile gesehen – u. durchreist hatte, entschied, – ( u. ich glaube nicht aus Vorliebe) mein Urtheil – Diese – unter die ausgezeichneten und reizenden zu zählen.»