Mit dem Gehen ist es
wie mit dem Schreiben,
fast jede:r kann es.
26. Oktober, 22.00 Uhr: Ein paar Tage sind verstrichen, seit ich am 23. Oktober 2022 die 31. und letzte Etappe der Bodensee-Umwanderung zusammen mit Rosmarie zu Ende gebracht habe. Ich nenne mein Projekt nun modisch MBB’s Bodensee-Trail und versuche, hier Bilanz zu ziehen. Die Wäsche ist gewaschen und im Kleiderkasten versorgt, Fotos sind aufgeschaltet, die Ausgaben abgerechnet – ich danke Rosmarie herzlich für ihre Superbegleitung! Die Rucksäcke liegen im Keller verstaut, die Wanderschuhe daneben gereinigt – ich danke meinen Bergschuhen „Nepal“ von La Sportiva für das Begehen jeglicher Wege am See, in Wälder, über Hügel, Bächen und Flüssen entlang und auf Berge hinauf. Es gäbe ein eigenes Kapitel, die unterschiedlichsten Beschaffenheiten von Routen in der Landschaft sowie in Dörfer und Städten zu skizzieren. Doch jede:r kennt solche Wege aus eigenem Ergehen. Gehen kann fast jede:r. Das gilt wohl auch fürs Schreiben. Unterwegs Notizen machen, vor Ort Literatur lesen und abends nach dem Nachtessen kleine Texte verfassen – schreiben kann fast jede:r. Beides – gehen und schreiben – zur gleichen Zeit tun, braucht nur etwas Konzentration, etwas Motivation, etwas Übung sowie ein praktisches Convertible und WLAN.
Zwei Dinge, zwei Ziele jedoch, die ich mir Mitte April beim Start vornahm, schaffte ich auf meinem Trail nicht: ich fand erstens nicht genügend Ruhe, um Bodensee-Poesie zu schreiben, kleine Beobachtungen gleich in Gedichte umzusetzen. Das hätte mehr Wanderpausen bedingt. Die Tage und die Abende waren dafür zu kurz – oder die Wegstrecken einfach zu lang und mein Rucksack zu schwer. Mit anderen Worten: ich war nach einer Tagestappe jeweils müde. Es fehlte mir an einer guten Kondition. Darum verzichtete ich im Alpstein auf die Besteigung des Säntis. Ich kam von der Bollenwees her zum Widderalpsattel. Dort oben konnte ich den Gipfel des Säntis zwar fast mit Händen greifen. Aber nach einem steilen Abstieg zur Meglisalp hätte ich nochmals 1000 Höhenmeter aufsteigen müssen. So beschloss ich, den 2502 m hohen Gipfels mit seiner markanten Antenne auszulassen. Mein Körper ist eindeutig älter geworden, zudem nahm der Trainingsfleiss ab, und – ich wiederhole mich – der Rucksack drückte schwer. Ich gab dem Wanderer in mir den Vorzug vor dem Berggipfel-Sammler. Nur meine Gefühlslage schwankte eine Zeit lang hin und her. Hätte ich trotzdem …? Den Säntis sahen wir nämlich auf dem Bodensee-Trail fast aus allen Perspektiven im Hintergrund, darum nahm ich dessen Besteigung in mein Programm auf.
Beim Gehen, schauen, lesen, schreiben, essen … habe ich etwas nicht vermisst: Fernsehen spielte überhaupt keine Rolle auf meinem Trail, obwohl in jedem Hotelzimmer ein TV-Apparat an der Wand hing. Nicht einmal haben wir den Fernseher eingeschaltet. Fernsicht hatten wir tagsüber ja genug. Sehr wenig las ich Zeitungen digital. Wichtige Neuigkeiten erzählte mir Rosmarie. Wenn es am Abend die Zeit erlaubte, hörten wir – Achtung Wortspiel – das Echo der Zeit auf Radio SRF. Dieses Format gehört zu unserem Alltag. So wurde ich ohne vertiefte Zeitungslektüre nur schwach konfrontiert mit der Polykrise der Gegenwart. Wer zu Fuss geht, wer lokale Geschichte(n) studiert, wer sich auf ein Weissbier oder einen Möhl-Saft in der nächsten Beiz freut, dürfte wohl etwas Distanz bekommen zur deprimierenden Wirkung aktueller Bad News in den Medien. Gesagt werden könnte: trotzdem geht es, trotzdem gehen wir Schritt für Schritt weiter.
In einem Essay auf meinem Online-Magazin Bodensee schildere ich, dass es in der Schweiz am Bodensee keine Expo 2027 geben wird. Zwar verstehe ich die demokratisch legitimierte Absage, meine aber, dass ein in der Region besser verankertes Projekt mehr Chancen auf Erfolg gehabt hätte. Diese Gelegenheit für die Schweiz ist verpasst. Doch irgendwie bin ich stolz, dass ein kleines Projekt eines 70-jährigen Wanderers eine Idee der Expo27 verwirklichte: die Verbindung der drei Landschaften See – Stadt – Berg. Dazu mache ich deutlich, dass Baden-Württemberg, Bayern und Vorarlberg mit der Schweiz zusammen die historische Bodenseeregion ausmachen. In der Rubrik Orte kommt eine Fülle von geschichtlichen und kulturellen Dimensionen zu Wort. Der Bodensee war und ist nicht auf den Alltag eines einzelnen Landes beschränkt. Wenn ich in Zukunft hie und da am Ufer des Bodensees sitzen werde, werde ich von einer Expo träumen, die tatsächlich und wirksam ein kleines europäisches Projekt darstellt. Heute ist die Zeit noch nicht reif. Aber rund um den See arbeiten bereits Idealist:innen dafür.
26. Oktober, 23.00 Uhr: Die tägliche Erinnerung an MBB’s Bodensee-Trail 2022 sowie die Hoffnung auf ein grösseres, Länder verbindendes Projekt im Jahr 20XX liegt in meinem Hosensack: mein Schlüsselanhänger, gestaltet als Bodensee.