Etappe 25 von Brülisau zur Bollenwees

Ein Berg stellt sich von einer anderen Seite betrachtet
ganz anders dar.

15. Oktober, 10.10 Uhr: Blaue Himmelsfenster über Brülisau, sie versprechen Wetterwechsel. Dazu Kuhglockengeläute auf der Wiese. Eine über eine höher liegende Weide springende Geissenherde bewirkt in den Ohren einen Stereoeffekt. Zwischen dem Hohen Kasten zur Linken und der Alp Sigel zur Rechten schlängelt sich das Strässchen zum letzten Parkplatz vor den Bergen. Eine viersprachige Tafel kündet die neue Welt an: „Von hier aus begeben Sie sich in ein Gebiet mit alpinen Gefahren.“ Ohne Ausrufezeichen. Auf 940 m über Meer.

15. Oktober, 8.14 Uhr: Das Postauto fährt bei der Kastenbahn in Brülisau weg. Einzige Passagierin: Rosmarie. Sie schaltet zwei Tage ein, um neue Wäsche zu holen und ihre Bibliothek in Biel-Bienne aufzusuchen. Schliesslich gibt es auch Tage ohne Wandern, Nächte mit spannender Lektüre. Aus Winterthur schreibt sie mir via SMS von strahlendem Sonnenschein.

15. Oktober, 11.20 Uhr: Die steilste Strecke der Bodensee-Umwanderung liegt unter mir. Das Brüeltobel ist steil, steiler, am steilsten. Der Aufstieg in Etappe 2 auf den Rorschacherberg dürfte auf Rang 2 folgen. Ob im Alpstein noch steilere Passagen auf mich warten werden? Auf dem Plattenbödeli (1274) kehre ich ein und sage mir: Ovomaltine verleiht Flügel. Schneller als der Wegweiser erlaubt, gehe ich der Bollenwees entgegen. Während mir im ersten Teil der Etappe viele Leute begegneten, bin ich auf der zweiten Hälfte fast allein unterwegs. Erst das Berggasthaus Bollenwees (1471) läuft zu meiner Überraschung in vollem Betrieb. Selbst das Nachtlager ist ausgebucht, ein Platz für mich reserviert. Die Wegweiser vor dem Berghaus laden zum Träumen ein: Saxer Lücke, Hoher Kasten, Zwinglipass, Rotsteinpass, Wildhaus, Meglisalp, Hundstein, Widderalpsattel, Säntis, Seealpsee. Kurz vor der Bollenwees fotografiere ich die ersten der sieben Kreuzberge. Einst, vor langer Zeit, kraxelte ich mit Bergführer und Freund Felix dort oben herum. Grüsse gehen raus an ihn und Monika! Hoch über dem Fählensee thront spitz der Altmann, der dritthöchste Gipfel im Alpsteinmassiv. In jungen Jahren kletterte ich durch das Schaffhauserkamin auf dessen Gipfel. Als nun (fast) alter Mann schaue ich wehmütig zum steinernen Kollegen hinauf. Vom Bodensee her erscheint er als breiter Gipfel. Hier erschliesst eine ganz andere Perspektive ein Matterhorn im Kleinformat. Auch die Widderalpstöck winken von oben zum Fälensee hinunter, ebenfalls Kletterberge während meiner Appenzellerzeit im Kollegium St. Antonius. 50 Jahre nach der Matura bin ich zurück in der Region meiner Jugend „am Berg“, zu lesen in der ersten Bedeutung des Wortes. Der Alpstein gehört für mich untrennbar zur Bodensee-Region, er ist fast von überall her sichtbar. Morgen sollte ich den geografischen Höhepunkt meiner Bodensee-Umwanderung erklimmen.

15. Oktober, 15.00 Uhr: In dreissig Minuten kann ich das Nachtlager beziehen, im Massenschlag Nummer 19 liegen für gerade 7 Personen Decken und Kissen bereit. Das sind gute Aussichten. Der Blick nach draussen verheisst hingegen weniger gute Aussichten: es regnet. Dabei sollten doch ab jetzt Sonnenstrahlen das Kommando übernehmen. Warum zögern sie? Es heisst sogar, dass sich ab Sonntag der Goldene Herbst durchsetzen wird. Am 16.Oktober feiert zudem die Stadt Sankt Gallen den Gallus, einen Feiertag. Da MUSS die Sonne scheinen.

15. Oktober, 19.00 Uhr: Beim Nachtessen ist der Schlag 19 dem gleichen Tisch zugeteilt, nur zwei Personen fehlen noch. Mit meinen Tischnachbarn Anna und Daniel ergibt sich spontan viel Gesprächsstoff. Sie wohnen in Sankt Gallen, kennen aber weder die Gallus-Legenden noch die Inklusin Wiborada. Die Stiftsbibliothek besuchten sie noch nie. Ok, sie sind sehr jung. Sie kommt von Splügen und ist dort im Winter als Pistenpatrolleurin und Lawinenretterin im Einsatz. Er stammt aus dem Neckertal und ist beruflich als Planer auf Baustellen unterwegs. Jetzt geniessen die beiden ein gemeinsames Wochenende in den Bergen. Wir setzten dem Abend einen einheimischen Schlusstrunk mit Appenzeller Alpenbitter.

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