Etappe 6 von Weinfelden nach Kreuzlingen

Die Vergangenheit
ändert sich ständig.

22. April, 8.45 Uhr. Ein Ausflug in die Militärgeschichte des Thurgaus steht auf dem Programm. Schliesslich war ich viele Jahre lang als HD-Soldat Teil des TerSanDet 147 im thugauischen Sirnach und dort meist in der Küche beschäftigt sowie beim Verteilen von feinen Militärguetzli und -schokolade an die Truppe, um deren Moral zu heben. Heute will ich auf dem Weg an den Bodensee den Weiler Schwaderloh besuchen. Er spielt(e) in der Geschichte der Schweiz eine Rolle. Mein Bruder Urban und dessen Partnerin Silvia begleiten uns von Weinfelden via Kreuzlingen bis nach Tägerwilen zum Nachtquartier. Urban trägt ein Sherpa-Cap und Sherpa-Wanderhosen. So ist es logisch, dass er Rosmarie den Dienst als Sherpa anträgt und ihren Rucksack übernimmt. Beim Stelzenhof auf dem Ottenberg können wir keine Ovomaltine trinken, die Beiz hat bis 11.00 Uhr geschlossen. Doch rasch ist der höchste Punkt des Tages erreicht. Von nun an ging’s bergab. Der grüne Thurgau erfreut Füsse und Herz. Einzig der intensive Beizenmangel trübt die Stimmung ein wenig. Sie hellt sich auf, als wir in Ellighausen einem Jakobsweg-Pilger begegnen. Er sei vor drei Tagen im Allgäu, in Isny, gestartet, erzählt er gut gelaunt, und via Lindau mit dem Schiff über den Bodensee nach Konstanz gelangt. Heute Morgen habe er seinen Weg nach Santiago de Compostella fortgesetzt. Wo er am Abend schlafe, wisse er nicht, es könnte auch in der freien Natur sein. Wir wünschen ihm gutes Ergehen auf seinen nächsten rund 2300 Kilometern. Das Wandern um den Bodensee ist einiges kürzer und am Bommer Weiher wartet ein Bänkli.

Im Weiler Schwaderloh angekommen, treffen wir nacheinander drei Personen auf dem Trottoir. Meine zwei Standardfragen: Wo ist die nächste Beiz? Und wo steht das Denkmal zur Schlacht im Schwaderloh von 1499? Drei Antworten auf Frage 1: „In Kreuzlingen.“ Drei Antworten auf Frage 2: “Keine Ahnung, noch nie gehört, ich wohne erst seit kurzem hier.“ Auf einen Exkurs zur Schweizer Geschichte verzichte ich. Immerhin hat sich Urban auf die Etappe vorbereitet und im Internet einiges über die Schlacht im Schwaderloh gelesen. Es gebe kein Denkmal, klärt er mich auf. Zudem habe sie weiter unten bei Triboltingen stattgefunden, hier hätten die Soldaten nur ihr Lager aufgeschlagen. Selbstverständlich habe ich im Vorfeld meiner Wanderung ebenfalls recherchiert. Texte des Historikers Peter Niederhäuser und seiner Kollegen im Buch Vom „Freiheitskrieg“ zum Geschichtsmythos. 500 Jahre Schweizer- oder Schwabenkrieg zeigen auf, wie sich Erzählungen über das Ereignis von 1499 im Lauf der Zeit verändert haben. Kurz gesagt: Die Vergangenheit ändert sich ständig. Im Schwaderloh bei Triboltingen habe kein Unabhängigkeitskrieg der Schweizer stattgefunden, wie noch Ende des 19.Jahrhundert behauptet wurde. Es sei einer von vielen Konflikten gewesen zwischen dem Schwäbischen Bund und wenigen eidgenössischen Orten inklusive der Gemeinen Herrschaft Thurgau. Der Thurgau wurde bekanntlich 1460 von den Eidgenossen erobert. Das ganze 15. Jahrhundert war übrigens voll von Scharmützeln, Streitereien, kriegerischen Aktionen auf dem Gebiet der werdenden Eidgenossenschaft und anderswo. Die weitere Geschichte in der Eidgenossenschaft nach 1500 hätte auch ganz anders verlaufen können… In der Rückschau sieht ja manches wie eine logische Entwicklung aus, was jedoch täuscht beim genauen Hinschauen. Doch Heldengeschichten neigen dazu, zum Mythos zu werden, zu einem starken Narrativ. Das lässt sich aktuell im Krieg Russlands gegen die Ukraine beobachten. Für die eine Seite gab und gibt es die Ukraine nicht einmal, daher soll dieses Land plus dessen Einwohner:innen mit Hilfe von erfundenen Mythen und bewaffneten Soldaten auf brutalste Art aus dem Bewusstsein verschwinden. Beim Wandern über Ottenberg und Seerücken wandern meine Gedanken weit über die Ostschweiz hinaus nach Osteuropa.

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