Gib dem Zu-Fall eine Chance.
Ohne Zufall keine Erzählung.
21. April, 9.00 Uhr. In Weinfelden beginnt nicht nur eine neue Etappe. Ab jetzt sollten die Wegstrecken kürzer als bisher ausfallen. Laut meiner Planung gibt es in den kommenden Tagen mehr Kultur zu besichtigen. Beim Blick auf MAPS.ME entdecke ich in der Nähe des Bahnhofs den Peter-Stamm-Weg. Ein schöner Zufall. Er ist in Weinfelden 1963 geboren und hier aufgewachsen, das wusste ich. Dass bereits zu seinen Lebzeiten ein Weg nach ihm benannt ist, überrascht mich. Eine tolle Geste der Stadt! Gerade habe ich sein neuestes Buch gelesen, „Das Archiv der Gefühle“. Ein Archivar, der seine Stelle verlor, führt sein eigenes Archiv weiter. Darin schwärmt er von einer frühen Liebe. Er hat sie einer Frau – heisst sie Fabienne oder Franziska? – vor 40 Jahren gestanden. Vieles spielt sich in der Fantasie ab, im Wunschdenken. Ein typisches Peter-Stamm-Buch. Der Archivar hat sein Leben versäumt, und plötzlich taucht Franziska auf. Was nun real passiert, was Wunschdenken ist, bleibt unklar. Das eigene Leben lässt sich nicht archivieren, sagt die melancholische Erzählung. Jedenfalls gibt der Autor dem Zu-Fall kunstvoll eine Chance.
An der Route meiner Bodensee-Wanderung liegt der Seerücken. Von Peter Stamm gibt es das gleichnamige Buch in unserer privaten Bibliothek, 2011 erschienen. Ich hätte es beinahe in den Rucksack gepackt. Es beinhaltet 10 Geschichten. Manche spielen an einem See. In der kurzen Erzählung der „Siebenschläfer“ wohnt die Figur Lydia in Weinfelden. Aus der Zufallsbekanntschaft mit dem Biobauer Alfons – er lebt oben (auf dem Seerücken?) auf dem Land – entfaltet sich langsam eine zärtliche Begegnung. Mit dem ersten Kuss zwischen den beiden endet der Text, ein offener Schluss.
Ich kenne Peter Stamm nicht persönlich, seine Bücher hingegen schätze ich. Lässt sich ein Autor oder eine Autorin via literarische Texte als Mensch erschliessen? Wohl kaum. Als Beispiel erwähne ich ein zweiseitiges Interview mit ihm in der NZZ vom 4. April 2022. Er ist Mitglied bei den Grünen, versteht sich als Realo. Unabhängig von der Weltlage bleibe er optimistisch, sagt er, das sei einer seiner Charakterzüge. Die Politik schätzt er häufig als mutlos ein. Im Interview begegne ich anderen Aussagen an als in seinen Büchern. Das ist gut so.
Wie es der Zufall so will, bin ich Peter Stamm am 6. April 2022 persönlich begegnet. Die Begegnung dauerte nur einen Augenblick. Sie bestand tatsächlich in einem Augen-Blick zwischen ihm und mir. Neben dem Bahnhof Winterthur. Ich wartete ungeduldig auf einen Freund aus Winterthur, mit dem ich vor dem Café Kuhn verabredet war. Beim Herumschauen in alle Richtungen schoss plötzlich ein Velofahrer haarscharf an mir vorbei. Ich konnte ihm gerade noch kurz ins Gesicht schauen. Und siehe da! Der schnelle Radfahrer war … Peter Stamm. Er hat mich weder gegrüsst noch erkannt. Ich ihn schon. Dank dieses Zufalls kann ich nun eine Geschichte mit ihm in der Hauptrolle erzählen. Nicht schlecht. Schliesslich fahre ich auch Velo.
Bleiben wir in Weinfelden, in der heimlichen Hauptstadt des Kantons Thurgau. Ich bin Ihnen noch die Auflösung der Bemerkung von gestern schuldig, warum ich auf dem Wanderweg um den Bodensee gerade die etwas langweilige Etappe von Bischofszell der Thur entlang nach hierher wählte. Nahe bei Weinfelden liegt Bussnang. Dort wollte ich eigentlich S., eine Tochter des Freundes aus Winterthur besuchen. Sie arbeitet bei STADLER RAIL. Die Firma ist als Systemanbieter von Lösungen im Schienenfahrzeugbau bekannt, mit Hauptsitz im Thurgau. Zudem wollte ich als Journalist eine Werkhalle besichtigen und ein Interview führen. Das war meine Idee, mein Plan vor langer Zeit. Meine Anfragen wurden leider abschlägig beantwortet. Das sei nicht üblich in ihrem weltbekannten Betrieb, hiess es am Telefon sowie via E-Mail. Den zugestellten Hochglanzprospekt ignoriere ich hier. STADLER RAIL fiel mir nicht zu. Keine Erzählung aus Bussnang. Zufälligerweise ist mir dafür der Peter-Stamm-Weg in Weinfelden zugefallen. Dieser Autor wird mich noch lange begleiten. Ich hingegen verzichte auf moderne Schienenfahrzeuge aus Bussnang und gehe zu Fuss weiter Richtung Bodensee.