Meine Welt entsteht aus dem,
was ich notiere.
19. April, 08.45 Uhr. Am Bahnhof Wittenbach trifft Simon aus Bern ein. Er wandert heute mit seinen Eltern. Und er trägt, ganz Gentleman, den Rucksack seiner Mutter. So kann Rosmarie entspannt den Tag geniessen. In Wittenbach lese ich, dass der Sitter-Uferweg teilweise gesperrt ist, wegen Erdrutschen. So gehen wir den Umweg auf einer historischen Strasse, auf der Alten Konstanzerstrasse. Sie stellte die Verbindung her zwischen dem Kloster St. Gallen mit der Bischofsstadt Konstanz und ist älter als tausend Jahre. Ursprünglich war es ein Säumerweg. Er entwickelte sich ab dem 17. Jahrhundert zur Landstrasse und ab dem 19. Jahrhundert in Teilen zur Kantonsstrasse. Einige Abschnitte sollen noch original sein. Mit der Motorisierung und dem landwirtschaftlichen Gebrauch wurden im 20. Jahrhundert viele Feldwege geteert. Der Handelsweg von St. Gallen (Leinwand/Stoffhandel) ging jedoch über Rorschach an den Bodensee und auf alten Römerstrassen durchs Rheintal nach Mailand und Venedig, respektive nach Ravensburg gegen Norden.
Wir verlassen die Alte Konstanzerstrasse, wandern an blühenden Obstplantagen und Bauernhäusern vorbei. Ausser Bauern bei der Arbeit begegnen wir unterwegs keinen Menschen. Dafür grüssen wir Kühe auf grünen Wiesen, Ziegen in Gehegen und Hühner bei den Höfen. Sie interessieren sich nicht für uns. Vogelgezwitscher und Rotmilane in majestätischem Flug begleiten uns dafür auf dem Weg über Wiesen und an Baumgruppen vorbei. Der Bodensee ist für uns unsichtbar, nur der Alpstein steht unbewegt zur linken Seite. Sobald es passt, steigen wir an die Sitter hinunter, die vom Appenzell herunterfliesst. Genau um 11.30 Uhr erreichen wir einen Grenzstein: hier wechseln wir vom Kanton Sankt Gallen in den Kanton Thurgau. Mein Rucksack fühlt sich gleich einige Kilos leichter an. Die Freude hält nur kurz, schon steigt der Weg wieder an Richtung Pelagibärg (sic!). Also doch keine Flachetappe! St. Pelagiberg, wie es die meisten Wegweiser schreiben, ist ein alter Wallfahrtsort zur „Schwarzen Madonna“, elegant auf einem Hügel gelegen und weitherum sichtbar. Hier oben kommt endlich wieder der Bodensee ins Blickfeld. Wir kehren fürs Mittagessen im Kur- & Exerzitienhaus Marienburg neben der Wallfahrtskirche ein. Die Leute an den Tischen beim Essen staunen uns mit grossen Augen an. Echte Pilger:innen sind wir ja nicht. Wirken wir drei wie Ausserirdische auf sie? Ein Pfarrer in kurzen Hosen singt das Tischgebet aus voller Kehle und rundem Bauch. Und hängt ein Halleluja an, Osterzeit. Schwestern vom Kostbaren Blut – ihr Mutterhaus steht in Schellenberg FL – bedienen uns herzlich. Ich fühle mich in eine (Gefühls-)Welt versetzt, die für mich weit zurück liegt. Rasch wartet draussen wieder ein profaner Wanderweg auf uns drei. Wir gehen eine Stufe tiefer die Sitter entlang.
Bischofszell, der heutige Zielort, kommt rasch näher und näher. Auf dem letzten Wegstück hilft das GPS, unser Nachtlager in der Altstadt auf direktem Weg zu finden. Beim Bier ab 14.45 Uhr vor dem Hotel am Grubplatz fällt mir – nach einer ruhigen Wanderung über Land – grosser Lärm in der kleinen Stadt auf: Lärm von unzähligen Lastwagen, die durch enge Strassen donnern, einer grösser als der andere. Und als ein Traktor mit einem Anhänger voller Heuballen gemütlich vorbeifährt, folgt ihm eine lange Kolonne von Brummis. Sie mussten ihr Tempo anpassen. Welch ein Symbol-Bild!
Ich ziehe die ruhige, die langsame, die staulose Bauernwelt vor, notiere aber ebenso ruheloses Geschehen, umtriebiges Arbeiten, lärmiges Durcheinander der Stadt – Ko-Existenz des Widerspruchs.
Am späten Nachmittag fährt Simon nach Bern zurück. Morgen muss Rosmarie ohne Sherpa weiter wandern.