Etappe 1 von Arbon nach Rorschach

Heimat – erst wer sie verlassen hat, lernt sie kennen,
sieht das Besondere des Eigenen im Vergleich mit dem Anderen.
Das Fremde bekommt einen Reiz, den das Vertraute nicht bieten kann,
und das Vertraute ist nun nicht mehr das Übliche, sondern das Unübliche.
Peter Haffner

17. April, 11.00 Uhr: Am Bodenseeufer in Arbon sitzen Rosmarie und ich an der Sonne. Es ist der erste Tag nach dem Frühlingsvollmond. Es ist Ostersonntag. Es ist der Hochzeitstag meiner Eltern im Jahr 1950. Es ist der Geburtstag meiner Mutter. Heute wäre sie 97 geworden. In Arbon bin ich 1952 geboren. Darum starten wir hier und heute zu unserer Wanderung um den Bodensee. „Steh auf und geh!“, höre ich eine Stimme.
Arbon ist eine Stadt mit Weitblick, eine Kultur- und Museumsstadt. Ich blicke auf die weite Fläche des Sees. Auf Deutschland, auf Vorarlberg mit dem Pfänder. Auf Goldach, den Rorschacherberg, auf den Säntis im Schnee, im Vordergrund sehen wir jenseits der Arboner Bucht das ehemalige Fischerdorf Steinach. Allen diesen Orten und Regionen statten wir auf unserer Wanderung einen Besuch ab. Am See scheint alles friedlich und fast ruhig zu sein. Er hat einen tiefen Wasserstand, fast kein Regen in letzter Zeit, noch keine Schneeschmelze. Trotzdem kommen Wellen ans Ufer. Die Bise bewegt den See mit starker Kraft. Am Mittag wird die Sturmwarnung einsetzen. Der oberflächliche Blick trügt.
Wir spazieren das Seeufer entlang hinauf zum Rand der Altstadt, Reste der alten Stadtmauer stehen verlassen herum. Weiter oben im Bergli-Quartier bin ich aufgewachsen, das Elternhaus an der Seefeldstrasse 6 bewohnen schon lange andere Leute. Im Bergli-Schulhaus, für mich Ort der 1. und 2. Klasse, gehen immer noch Kinder zur Schule, heute, an Ostern, ist natürlich schulfrei. Zwischen dem Schulhaus und der weitherum sichtbaren reformierten Kirche sticht die Alemannenstrasse südwärts in die Tiefe, in meiner Kindheit im Winter eine rasante Schlittelpiste (hinunter),  sonst für  junge Velofahrer:innen eine steile Strasse (hinauf). Die Strasse erinnert an die Alemannen oder Alamannen, denen wir im Bodenseeraum oft begegnen. Sie bildeten in der Spätantike und im frühen Mittelalter  eine Bevölkerungsgruppe, die dem westgermanischen Kulturkreis zugeordnet war. Das Wort bedeutet „vermischte Menschen“. Das wusste ich bisher nicht… Wir besuchen den Friedhof an der Rebenstrasse. Hier sind meine Eltern begraben, beide 2017 gestorben. Ein kurzes, dankbares Totengedenken. Aber eben: es ist Ostern, das Fest des Lebens. Der Frühling um uns ist ein wunderbares Dokument.
Ich will unbedingt zu den Ausgrabungsstätten Bleichi 2&3, zum Weltkulturerbe der Pfahlbausiedlungen aus der Jungsteinzeit und aus der Bronzezeit. Wir finden sie aber nicht, sie sei unter einem Parkplatz „versteckt“, damit sie nicht beschädigt werde… Wir müssten ins Historische Museum im Schloss Arbon, um Fundstücke zu betrachten – später einmal. So wandern wir weiter nach Steinach. Auf dem ganzen Arboner Weg kommen mir Kindheitserinnerungen en masse in den Sinn. Tempi passati,  in meinen Körper eingeprägt.

Bei Karl Schlögel finde ich „Im Raum lesen wir die Zeit“:
Orte sind nicht Schall und Rauch, sondern sagen etwas über Herkunft, Bildung, Karrieren, Schicksale. Sie flankieren Lebensgeschichten, sie markieren Lebenswege. Sie sind die Schauplätze, auf denen alles spielt. Hier kommt es zu den Begegnungen, von denen alles Weitere abhängt. Hier kreuzen sich die Wege, aus denen etwas Neues hervorgeht oder etwas verschwindet. Hier herrschen die Atmosphären, die etwas zustande kommen lassen oder etwas unmöglich machen.“
So ist es, sagt der Arboner aus dem Oberthurgau, der zur Zeit in Bern wohnt

In Steinach besuchen wir direkt am See Osci’s Fischbeiz. Da bin ich in meiner Jugend hie und da eingekehrt. Beim Fischknusperli essen und Möhl-Saft trinken schaue ich immer wieder über die Arboner Bucht auf die mir sehr bekannte und vertraute „Skyline“ dahinter – für mich ein grosser Genuss. Ein Stück Heimat.
Ab Steinach zeigt sich der Weg den See entlang stark frequentiert. Rucksackträger:innen  begegnen wir hingegen nicht. Wir hören im Vorbeigehen Sprachen fast der ganzen Welt. Mit allen möglichen Fahrzeugen sind die Leute unterwegs oder sitzen in Pop-up-Beizen am Wasser. Frühlingsstimmung prägt das Volk. Es ist Ostern. Die Ukraine ist präsent mit einzelnen Flaggen.
Am Rand, das heisst unten am See, streifen wir Goldach. Rosmarie ist da geboren und aufgewachsen. Hier haben wir 1976  in der Krypta der katholischen Kirche geheiratet.
Um 17.00 erreichen wir Rorschach und die Wohnung unserer alten Freunde Esther und Markus. Bei ihnen können wir ausruhen und übernachten. Auf ihrer Terrasse gibt es einen fantastischen Blick über den Bodensee und auf Arbon. Das „Dazwischen“ brauchte sechs Stunden Fussmarsch inklusive Pausen. Für heute genügt es. Nun stehen Rorschacherbier trinken, fein essen und plaudern an. Und meine Planung der zweiten Etappe. Dabei geht die Sonne unter. Das Aufleuchten der Sturmwarnungen rund um den See dauert in die Nacht hinein.

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